Von meiner Radtour nach Portugal 2008

Geschrieben am 11.04.2008

Aus dem Buch „wer bin ich? 5 tage wochenende im zeitalter des kleinen mannes“

79,48km; 5:18:01 Std; ø14,99km/h;

Schönheit und Schokokekse

Es ist nicht leicht, stets zu sagen, was man denkt. Noch schwieriger aber ist, zu sagen, was man fühlt. Selbst wenn man es sich traut ist es schwierig, die richtigen Worte zu finden. Ich versuche trotzdem, zu sagen was ich denke und fühle, wenn ich die Welt sehe.
Gestern wurde mir klar, was Freiheit bedeuten kann. Ich fahre ohne Ausweis, ohne Bankkarte, ohne Versicherung. Nur etwas Geld.
Das Treffen mit der Polizei. Die Konfrontation mit der Polizei. Die verblendeten Menschen in der Herberge, die Angestellten meine ich.
Ich sehe, in was für eine Scheisse wir uns über die Jahrhunderte und Jahrtausende reingeritten haben. Es ist für uns total selbstverständlich. Es ist so, weil es so ist.
FALSCH!
Es ist so, weil wir es so TUN! Es ist so, wie wir es WOLLEN!
Im Moment wollen wir wir alles tun, wie wir es gewohnt sind. Wir können es aber anders machen. ALLES!
Jeden Tag entscheide ich auf’s Neue. Jeden Tag entscheidest du aufs Neue. Jede Sekunde entscheidet sich jeder Mensch der Welt aufs Neue, das zu tun, was er tut.
Das Karma ist kein Sparkonto für Morgen, es ist die Welt, die wir jeden Tag neu erschaffen. Es ist keine Strafe Gottes, es ist unser Werk.
Jeden Tag entscheidet man sich auf’s Neue, jeder Schritt führt zu einer neuen Kreuzung mit unendlich vielen Wegen.
In der „Erwachsenenwelt“ ist alles voll von Zwängen. Stets wird man auf jenen Pfad der Gewohnheit gedrängt. Immer wird einem weiss gemacht, dieser wäre der Beste, das „non-plus-ultra“. „So ist das Leben…“ – ja, sogar für die Kritiker hat „man“ stets eine Lüge parat. So… wenn du so klug bist, wie ist denn das Leben, was ist der Sinn? Was ist der Sinn des Lebens…???
Ganz einfach:
Wir müssen nichts, außer sterben. Wenn wir leben wollen, müssen wir essen, trinken, atmen und auf unsere Körpertemperatur achten. Ein Brötchen hier, ein Pulli da. Der Rest ist Luxus! Oder sagen wir besser, DER REST IST FREIHEIT! Freiheit bedeutet also: Nein sagen zu können. Freiheit bedeutet: selbst zu kreieren, selbst zu gestalten, selbst zu wählen, selbst zu handeln. In der „Freien Welt“ lebt man aber eine vorgekaute Scheisse, kaut ein wenig daran weiter und stopft es dann seinen Kindern in den Mund.
6… setzen… oder gleich zum Rektor… Freiheit? Fehlanzeige. Der „Ernst des Lebens“ hat noch gar nicht begonnen, und schon bekommt man auf die Fresse. Na danke, und ihr wundert euch schon seit Sokrates, dass die Jugend so aufmüpfig und desinteressiert ist! Mich wundert’s nicht.

Der Tag beginnt herrlich, ich kann mein Geschirr anständig abspülen und das Zelt ist dank der Brücke trocken geblieben. Es ist wirklich schön hier, ein riesen Schwarm Schwalben jagt voller Freude nach jenen Insekten, die heute Nacht noch vor den Fledermäusen geflüchtet sind. Der Fluss ist schön ruhig, alles ist grün. Bunte Blumen setzen dezente Kontraste zu dem Blau des Himmels und des Wassers.
Am liebsten würde ich bleiben, aber noch lieber will ich weiter. Ich habe Hummeln im Arsch, Portugal rückt näher und näher. Schnell noch Brot kaufen und los geht’s. Denke ich… doch schon an der ersten Kreuzung stehen ich vor einem Dilemma. Die Karte zeigt, dass nur Autobahnen nach Portugal führen. Der einzige gute Weg liegt viel weiter südlich, am Rio Guardiana. Ich dachte schon ein paar mal daran, an diesem Fluss entlang zu fahren, habe es aber immer wieder verworfen.
Es ist dadurch zwar etwas weiter nach Portugal, aber ich erhoffe mir im Süden weniger Polizei. Mein Ziel liegt sowieso im Süden des Weinkorkenlandes. Mit dem Regen habe ich weiterhin gigantisches Glück, dafür macht mir der Wind zu schaffen. Er scheint sich stets gegen mich zu stellen, egal in welche Richtung ich fahre. Außerdem verlasse die Ebene des Rio Tajo.
Seit Beginn der Fahrt trainiere ich meine Intuition. Ich denke solange, bis die Vernunft am Ende ist. Gibt es mehrere vernünftige Wege, entscheide ich aus dem Bauch raus. Was ich gestern wohl Falsches gegessen habe…? Irgendwas muss meinen Bauch verstimmt haben, warum sonst schickt er mich gegen Wind und in die Berge?
Naja, bisher sind es eher Hügel und ein sanftes Lüftchen gewesen, wenn man betrachtet, was nun kommt. Sierra Guedalupe. Ein ausgewachsenes Gebirge. Der Wind bläst mich fast vom Fahrrad. Wenn ich die Tour gemacht habe, um ein Mann zu werden, habe ich nun die Chance dazu. Manchmal muss ich absteigen, aber umkehren is nich. Aufgeben? NIEMALS!
Wenn ich erkenne, dass ich Fehler mache, dann ändere ich den Kurs. Nicht aber, weil ein Weg zu schwer sein könnte. Kein Weg ist zu schwer, nur manche sind zu schwach. Manchmal sogar so schwach, dass sie sich Fehler nicht eingestehen können.
Der Pass hat es in sich. Hier zeigt sich, dass ich nichts Falsches gegessen habe, sondern mein mein Bauch meinen Augen und meinem Gemüt einen Gefallen tun wollte. Die halbindustrialisierte Landwirtschaft und die vollverblendete Kultur in der Tajo-Ebene sind hier noch nicht so ganz angekommen. Sympathische kleine Dörfer, freie Hühner, Orangen- und Olivenbäume, die nicht in Reih und Glied stehen müssen. Außerdem habe ich ein verdammt geiles Gefühl. Der Wind peitscht mir krass entgegen und ich kämpfe mit dem Berg. Mit Schwarzenegger mitfiebern, wie er den 300ten Statisten niedermäht und dabei Chips-fressend auf dem Sofa sitzen? Nein, das hier ist wahre Action, hier erlebt man die reinen Kräfte der Natur! Überglücklich rufe ich Gott, dem Geist im Universum, zu, dass ich ihn liebe… und füttere dann meinen Bauch voller Dankbarkeit mit Schokokeksen. Auch als Manager macht sich Gott nicht schlecht. Wiedereinmal legt er mir den erhofften Regen in die Zeit der Mittagspause und stellt ein Häuschen nebendran. Darin sitze ich nun. THANKS!!! AMIGO!!!
Zwischen Dosenbier und Honigbrot kommt mir ein Gedanke, den ich schon öfters hatte.
Der Wind der mir entgegenbläst besteht aus bewegten Molekülen. N², H²O, O² usw. Die Berge aus den verschiedenen Mineralien und Metallen. Si, Fe, CaCO², Cu und wie sie alle heißen mögen. Dann ist da noch das Licht und die Elektrizität, die Funkwellen und all die anderen messbaren, fest definierbaren Dinge der physischen Welt. Für alles gilt: Wenn du etwas erschaffen willst, brauchst du die Rohstoffe. Alles ist wie ein riesiger Legokasten. Logisch und nachvollziebar. Von allen uns bekannten physischen Dingen kennen wir die Bauteile.
Doch dann bin da ich… Mein Körper, ok, organische Chemie. Zucker, Eiweiss, Wasser, DNA, Vitamine und Mineralien. Aber mein Bewusstsein? Meine Gedankenwelt… Meine Träume… Woraus sind diese Dinge gebaut?
Das Fachgebiet hierfür ist die Neurologie. Die Psychologie, was Wissenschaft der Seele bedeutet, fragt sich solch grundlegende Dinge nicht.
Die Neurologie hat eine Menge herausgefunden. So weiss sie, dass Impulse von den Körpersensoren zum Gehirn geleitet werden. Augen, Ohren, Nase. Druck- und Wärmesensoren. Geschmackssinn. Schmerzempfinden.
Kleine elektrische Impulse lösen Molekülausschüttungen aus, die wiederum elektrische Signale auslösen. Sie heißen Neurotransmitter.
Noch nie aber hat man einen Gedanken entdeckt. Wenn diese kleinen elektrischen Impulse Information „tragen“, so muss diese Information doch auch irgendwo zu finden sein. Wenn es diese Information gibt, muss sie ja auch aus irgendwas „gebaut“ sein.
Wenn ich mir eine hübsche Blondine vorstelle, so ist diese Blondine real da. Nur eben nicht „physikalisch“, sondern „???“ – geistig!
Wenn sie aus Elektronen und/oder Neurotransmittern bestehen würden, könnte man die Blondine ja unter dem Mikroskop sehen. Da ist aber keine Blondine…
Woraus ist sie gebaut, aus welchem „Stoff“ ist unser Geist gebaut?

Ich liebe die Naturwissenschaft, weil ich die Wahrheit liebe. Hat sie nicht den Kirchen-Wichsern das Handwerk gelegt? Hat sie uns nicht all die geilen Maschinen gebracht, die uns die Arbeit abnehmen?

NATURWISSENSCHAFT IST DIE MÖGLICHST EXAKTE INTERPRETATION DER BEOBACHTUNG.

Schon immer sahen die Menschen Äpfel von den Bäumen fallen, das Wasser in Badewannen ansteigen, wenn sie sich hineinsetzten. Schon immer sahen die Menschen die Sterne und ihre Bewegung.
Doch erst die genaue Überlegung, das neugierige Hinterfragen, erst die Fragen „Wie?“ und „Warum?“ brachten die Erkenntnisse von Schwerkraft, Masseverdrängung und der Gestalt von Erde und Raum…
Schon immer haben die Menschen gedacht, geträumt und phantasiert.
Doch woraus sind die Gedanken gebaut, was ist der Stoff, aus dem die Träume sind?

Der Regen lässt nach, hier und da kommt etwas Sonne durch die Wolken. Die Abfahrt ist herrlich. Schöne Kurven, Eukalyptuswälder und ein Meer von Blumen. Irgendwie erinnert es mich an einen australischen Regenwald. Freudig erklimme ich Berg nach Berg, stets gespannt, wie es dahinter aussieht. Oben in den Felsen ein Geier, weiter unten jene lustigen wilden Hühner und eine Menge anderer Vögel.

Und all diese Schönheit, dieses wunderbare Zusammenspiel aller Teile ist – laut Wissenschaft – ZUFALL!

Es öffnet sich wieder ein weites Tal, nach jenem ständigen auf und ab. Eichen, Eichen, Eichen. Kein dichter Wald, immer schön Abstand dazwischen, so das Gras wächst. Kühe und Schweine finden es prima hier, aber claro! Hier ist Spanien noch das alte. Keine Mastställe, keine Bewässerungsanlagen, keine geometrisch aufgeteilte Landschaft. In den Dörfern Zitronen-, Orangen- und Nussbäume. Gemüsegärten und freundlich grüßende Menschen. Keine gestressten Gesichter wie in den Städten. Lediglich die Jugend erscheint mir angefixt. Da merkt man dann doch die Kultur des Kapitalismus. Da die alten Traditionen ökonomisch gesehen aus dem Rennen sind, orientiert sich die Jugend anderswo. Kann man verstehen. Außerdem wird hier sicher auch der Propagandakrieg geführt. Auch hier sehe ich Satellitenschüsseln.
Ich weiß selbst noch wie es damals war. Man reflektiert nicht, sucht nach Vorbildern. Und davon gibt es im Fernsehen ja scheinbar genug…!
Wie auch immer, alles in allem war’s ein geiler Tag. Ich habe beschlossen, dass ich etwas „nicht-physikalisches“ bin und einen „physikalischen“ Körper „bewohne“. Weil Körper schlafen und essen, mache ich jetzt Rast. Eine kleine Kirche mit Vordach sieht ganz verlockend aus. Das Vordach sorgt dafür, dass das Zelt trocken bleibt, was das packen morgen Früh erleichtern wird. Zwei Esel stehen hier. Ich koche ein leckeres Ratatouille mit frischen Zucchinis. Dazu gibt es… Was wohl? Spaghettis!

Buenas Noche!